71 Ein Jahr auf Reisen

Wie schon Einstein sagte: „Zeit ist relativ“. Für mich ist sie relativ geworden. Während ich diese Zeile schreibe bin ich schon ein Jahr und ein Monat am Reisen und ich habe erst vor kurzem realisiert, wie lange ich schon unterwegs bin. Den „Jahrestag“ habe ich völlig vergessen. Zu Hause wäre das irgendwie aufgefallen, jemand hätte mich erinnert, man hätte vielleicht darauf angestoßen oder es wäre sonst irgendwie zum Thema geworden. Aber hier und jetzt, nichts. Irgendwie ist es nicht von Bedeutung wie lange ich weg bin.

Ich würde gerne mal wissen, wie viele Stunden ich beispielsweise in Bussen verbracht habe. Wenn ich mir überlege, dass ich mich freue, wenn ein Nachtbus nur 8 Stunden fährt, sagt das einiges aus. In der Zeit kann ich auf jeden Fall Deutschland von West nach Ost durchqueren. Man gewöhnt sich an vieles. Aber meine längste Busfahrt mit 24h war eindeutig zu viel…

Es fühlt sich auf der einen Seite an, als wäre ich erst gestern in Zug in Kaiserslautern eingestiegen und hätte meinen Liebsten bei der Abfahrt zugewunken. Auf der anderen Seite habe ich vielleicht jetzt schon mehr Dinge gesehen und Sachen erlebt, wie andere in ihrem ganzen Leben. Was ich mir davon kaufen kann? Nichts! Aber das habe ich auch nicht erwartet und das brauche ich auch nicht.

Die Welt aus der ich komme ist von weitem betrachtet ein ganz andere als zu dem Zeitpunkt als ich sie verlassen habe. Oder bin einfach ich mittlerweile ein anderer? Das Reisen verändert einen!

Die Sicht auf materielle Dinge hat sich verändert. Dieser Zwang in der westlichen Gesellschaft etwas zu besitzen, es zur Schau zu stellen, um es dann bei nächster Gelegenheit gegen etwas besseres, teureres oder hipperes zu ersetzen ist mir fremd geworden. Manchmal wurde der Gegenstand noch nicht einmal wirklich verwendet, aber er landet danach in der Tonne. Jemand anderes will es auch nicht, weil es nicht neu ist, nicht hip genug, nicht den aktuellen Designvorschriften entspricht, vielleicht auch einfach nur, weil es nicht zu der Farbe des IPhones passt.

Wenn ich mir beispielsweise anschaue, mit welchen Autos man hier teilweise umherfährt. Dellen, Rostflecken, fehlende Sitze, fehlendes Interieur, Autoteile in verschiedenen Farben, Autos, die so laut sind, dass man sein eigenes Wort nicht versteht. Aber die Dinge tun was sie sollen fahren. Personen oder Gegenstände von A nach B transportieren. Man kann jetzt verständlicherweise argumentieren, dass unsere Autos sicherer sind und wir weniger Verkehrstote haben. Aber solange der Zustand des Autos andere Personen nicht gefährdet, ist es völlig egal, wie das Auto aussieht, solange es tut was es soll. Nämlich fahren. Bei uns wird ja mit hervor gehaltener Hand über den Nachbarn geredet, wenn er sein Auto schön länger nicht mehr gewaschen hat oder wenn eine Delle irgendwo zu sehen ist. Das Auto, des Deutschen liebstes Stück. Geldmacherei und ein Fass ohne Boden, in dem manch armer Schlucker sein ganzes Geld verpulvert, um gesellschaftliche Anerkennung zu bekommen. Das Beispiel funktioniert aber ebenso gut für elektronische Geräte, Markenkleidung oder ein Haus. Das ist ein Teil unserer Kultur. Ein Teil den ich ganz und gar nicht vermisse. Bis vor einem Jahr war ich ein Teil davon. Konsum, Konsum, Konsum. Ob man es braucht oder nicht. Auch vor meiner Reise habe ich mein Leben schon ein bisschen umgestellt und bin oft genug auf Unverständnis dafür gestoßen. Also bin ich mir im Klaren darüber, dass mich jetzt fast niemand mehr verstehen wird.

Seit 14 Monaten lebe ich aus zwei Rucksäcken. Da ich nicht die Möglichkeit habe viele materielle Dinge zu besitzen, ist mir klar geworden, wie unwichtig und wenig erfüllend Besitz ist. Trotzdem oder gerade deshalb ist mein Leben mittlerweile reicher als zuvor!

Dein Auto? Dein Haus? Dein Boot? Mein Herz! Meine Seele! Mein Karma!

Je länger man reist, desto genügsamer und anspruchsloser wird man. Wenn man etwas oft genug gesehen oder erlebt hat, gewöhnt man sich fast an alles. Sei es ein Klo ohne Klobrille, bei dem man noch beim ersten Mal fluchend davor steht und überlegt, wo man sich jetzt am besten festhält oder wenn man auf Märkten sieht, wie das Fleisch den ganzen Tag offen und ungekühlt in der Gegend rumhängt und am Ende des Tages auf seinem Teller landen wird. Die Kombination aus beidem kann an schlechten Tagen zu heftigen Krämpfen in Magen und Oberschenkel führen 😉

In meiner alten Welt habe ich mir viel zu viele Gedanken darüber gemacht, wie man mich sieht und was man über mich denkt. Ich weiß, dass das vielen so geht und bin mir darüber bewusst geworden, dass das nicht nur ein persönliches, sondern auch ein gesellschaftliches Problem ist. Seit einiger Zeit lege ich deutlich weniger Wert darauf, wie man mich sieht oder wie man mich betrachtet. Es ist wichtig für mich weiter daran zu Arbeiten. Es bedeutet Unabhängigkeit, innerer Frieden und Freiheit!

Wie auch in meinem Eintrag zuvor könnte ich noch ewig so weiterschreiben. So viele Dinge, die vor einem Jahr noch unvorstellbar gewesen wären. Ansichten, die sich für mich geändert haben, aber auch so viele Dinge, die ich schon gar nicht mehr wahrnehme, weil ich mich so sehr verändert habe. Jeder Schritt den ich mache verändert mich ein Stück weiter. Jeder Schritt den ich mache, gibt mir ein Stück mehr Erfahrung. Jeder Schritt den ich mache lässt mich ein bisschen mehr verstehen. Jeder Schritt den ich mache, bringt mich meinem Ziel ein Stück näher. Was mein Ziel ist? Ich weiß es nicht. Aber ich bin zufrieden damit, es nicht zu wissen.

6 thoughts on “71 Ein Jahr auf Reisen”

  1. „mein Herz, meine Seele, mein Karma“
    So habe ich dich kennengelernt und deswegen bist mir auch ans herz gewachsen.
    Ich lese vorwärts und rückwärts im blog. Aber ich fühle mich immer wie als würde ich es miterleben. Und das freut mich, denn irgendwie beneid ich dich ein bißchen, aber ich würd michs nicht trauen. Vielleicht 20 Jahre früher. Und mit rückticket. Wer weiß das schon. Wichtig ist wir sind glücklich. Und ich bins sehr.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.